Legitimation durch öffentliches Räsonnement?

Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit

Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit

In seiner vielbeachteten Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit betrachtet Jürgen Habermas Legitimation nicht als etwas, das in Abhängigkeit vom bestehenden Herrschaftstypus einfach beansprucht werden kann, wie Max Weber das nahelegte. Vielmehr sieht er vom öffentlichen Räsonnement eine rechfertigende Wirkung ausgehen, die nicht von den Herrschenden gesteuert, sondern von den Beherrschten getragen wird.

„Bürgerliche Öffentlichkeit läßt sich vorerst als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute begreifen; diese beanspruchen die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit alsbald gegen die öffentliche Gewalt selbst, um sich mit dieser über die allgemeinen Regeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbiet auseinanderszusetzen. Eigentümlich und geschichtlich ohne Vorbild ist das Medium dieser politischen Auseinandersetzung: das öffentliche Räsonnement. In unserem Sprachgebrauch bewahrt dieses Wort unüberhörbar die polemische Nuance beider Seiten: die Berufung auf Vernunft und ihre verächtliche Herabsetzung zur nörgelnden Vernünftelei zugleich. (…) Die Bürgerlichen sind Privatleute; als solche ‚herrschen‘ sie nicht. Ihre Machtansprüche gegen die öffentliche Gewalt richten sich darum nicht gegen die Zusammenballung von Herrschaft, die ‚getilgt‘ werden müßte; sie unterlaufen vielmehr das Prinzip der bestehenden Herrschaft. Das Prinzip der Kontrolle, das das bürgerliche Publikum diesem entgegensetzt, eben Publizität, will Herrschaft als solche verändern. Der im öffentlichen Räsonnement sich darstellende Machtanspruch, der eo ipso auf die Form eines Herrschaftsanspruchs verzichtet, müßte, wenn er sich durchsetzen würde, zu mehr als nur zu einer Auswechslung der Legitimationsbasis einer im Prinzip aufrechterhaltenen Herrschaft halten“ (Habermas 1990, S. 86f)

Basierend auf den sich verbreitenden Zeitungen hat das lesekundige Bürgertum des 19. Jahrhunderts, also das Bürgertum des Deutschen Bundes und später des Kaiserreichs, angefangen, politische Fragen zu erörtern. Themen, von denen die Bürger ohne massenmediale Verbreitung noch wenige Jahrzehnte zuvor nichts mitbekommen hatten, wurden überall im kleinen Kreis ebenso wie in öffentlicher Runde diskutiert. Zwangsläufig wurden auch Entscheidungen der Regierung Gegenstand solcher Diskussionen. Wenn das öffentliche Räsonnement dann zu einem anderen Ergebnis kommt, stellt das letztendlich die Richtigkeit der Regierungsentscheidung in Frage – und beansprucht dadurch zugleich die Legitimität der eigenen Haltung kraft des öffentlichen Abwägens der Argumente. Durch die Restauration nach Napoléons Niederlage waren die Bürgerlichen von der Herrschaft durch die machtbewussten Monarchen ausgeschlossen worden, am politischen Geschehen nahmen sie auf diese Weise gleichwohl Anteil. Niemand konnte sie hindern, sich über die großen Fragen der Zeit auszutauschen. Und niemand konnte sie hindern Für und Wider in öffentlichen Diskussionsrunden abzuwägen.

„Gleichzeitig beansprucht, was unter solchen Bedingungen aus dem öffentlichen Räsonnement resultiert, Vernünftigkeit; ihrer Idee nach verlangt eine aus der Kraft des besseren Arguments geborene öffentliche Meinung jene moralisch prätentiöse Rationalität, die das Rechte und das Richtige in einem zu treffen sucht.“ (ebd. S. 119f)

Abgeschnitten von den Hebeln der Macht, wurden die Diskussionen nicht durch die Machtverhältnisse entschieden, sondern durch die Kraft der Argumente. Nach dem Zweiten Weltkrieg nun war das Bürgertum nicht mehr von der Macht abgeschnitten. Die Demokratie gewährte fortan allen Zugang zur Macht. Dennoch sieht Habermas bis heute keine idealen Bedingungen für das öffentliche Räsonnement, weil sich in der medialen Öffentlichkeit ein Konsens nicht aus einer gleichberechtigten Diskussion ergibt.

„Der hergestellte Konsensus hat natürlich mit öffentlicher Meinung, mit der endlichen Einstimmigkeit eines langwierigen Prozesses wechselseitiger Aufklärung im Ernst nicht viel gemeinsam; denn das ‚allgemeine Interesse‘, auf dessen Basis allein eine rationale Übereinstimmung öffentlich konkurrierender Meinungen zwanglos sich einspielen konnte, ist genau in dem Maße geschwunden, in dem die publizistischen Selbstdarstellungen privilegierter Privatineressen es für sich adoptierten.“ (ebd. S. 291)

Einem vernunftgemäßen Konsens steht im Wege, dass die Zugänge zur Öffentlichkeit ungleich verteilt sind. Da die großen Massenmedien Radio, Fernsehen und Zeitungen maßgeblich von Macht und Geld getragen werden, besteht keine Chancengleichheit der Interessen. Ein Chefredakteur oder ein Konzernchef kann mehr Einfluss geltend machen als ein Fließbandarbeiter und das auch für private Vorteile nutzen. Eine auf diesem Wege hergestellte und verbreitete öffentliche Meinung ist weniger das Ergebnis eines zwanglos herbeigeführten Konsens unter den Bürgern, denn einer massenmedialen Großwetterlage. Trotzdem ergibt sich daraus eine legitimierende Wirkung für die Politik.

„So wird ein als Publikum desintegriertes Publikum der Staatsbürger mit publizistischen Mitteln derart mediatisiert, daß es einerseits für die Legitimation politischer Kompromisse beansprucht werden kann, ohne andrerseits an effektiven Entscheidungen beteiligt oder der Beteiligung auch nur fähig zu sein.“ (ebd. S. 325)

Für den gewöhnlichen Bürger besteht keine Möglichkeit an der öffentlichen Diskussion teilzunehmen. Er kann sie mitverfolgen, dazu beitragen kann er nicht. Dennoch verstehen sich die Massenmedien in ihrer öffentlichkeitswirksamen Aufarbeitung aktueller Themen auch als Stellvertreter der Bevölkerung. Sie beanspruchen für ihre öffentlich ausgehandelten Positionen durchaus Legitimation – und sie tun das durchaus unter Verweis auf ein öffentliches Räsonnement. Allein dieses Räsonnement schließt einen Großteil der Bevölkerung aus und es entfaltet nicht das volle Potential der „zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede“ (Habermas 1984, S. 605).

Mehr in:

Hubertus Niedermaier: Wozu Demokratie?

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Wozu Demokratie?
Politische Philosophie im Spiegel ihrer Zeit.
Konstanz und München: UVK 2017.

 

 

 

 

 

 

Jürgen Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns; Frankfurt am Mein 1984.

Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit; Frankfurt am Main 1990.

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