Hebt Globalisierung funktionale Differenzierung auf?

Ulrich Beck: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter

Ulrich Beck: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter

Im zwanzigsten Jahrhundert ließ sich funktionale Differenzierung vergleichsweise klar an verschieden ausgerichteten Organisationen ablesen. Unternehmen orientierten sich an Wirtschaftlichkeit, Gerichte am Recht, Wissenschaften an Erkenntnis, Kirchen an religiösen Fragen, Regierungen und Behöreden an Machtverhältnissen. Die jeweils anderen funktionalen Erforderisse traten vorwiegend als begrenzende Faktoren auf. Konzerne müssen sich an Gesetze halten. Juristen können wissenschaftliche Erkenntnisse nicht außer Kraft setzen. Kirchen haben politische Entscheidungen zu akzeptieren. Universitäten und Staaten verfügen nicht über beliebig viel Geld.

Im Zuge der Globalisierung gehen diese Eindeutigkeiten verloren. Da tauchen Berichte auf, wonach Wissenschaftler in enger Verbindung zu Wirtschaft stehen und Studienergebnisse veröffentlichen, die Unternehmen in die Hände spielen, sich später aber als nicht korrekt erweisen. Da unterzeichnen Regierungen internationale Handelsverträge, deren Inhalte von Konzernen erarbeitet wurden, denen sie dann auch am meisten nutzen. Da entziehen sich transnationale Unternehmen der staatlich geregelten Besteuerung, indem sie Gewinne geschickt ins Ausland verlagern. Da sprechen US-Gerichte US-Ölkonzerne von einer Strafzahlung frei, die das Gericht eines armen Landes wegen massiver Umweltverschmutzung verhängt hatte. Da entscheiden Schiedsgerichte der Welthandelsorganisation (englisch: World Trade Organization, WTO) darüber, ob Subventionen demokratisch gewählter Regierungen zulässig sind. Da sollen Universitäten die Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen intensivieren, um von diesen Forschungsgelder einzusammeln, von denen sie dann abhängig sind. Da setzen sich christliche Creationisten und islamische Salafisten über staatliches Recht hinweg. Da privatisieren Staaten Infrastruktur für Wasser, Strom, Telekommunikation oder Eisenbahn, die sich marktwirtschaftlichem Wettbewerb entziehen und in ein Monopol münden. Da setzen Geldgeber in verschuldeten Staaten Privatisierungen und Strukturanpassungen durch, wodurch Vermögende und Konzerne zu Spottpreisen an Volkseigentum gelangen, während das dem Volk Armut und Hunger bringt.

In vielen Bereichen verschränken sich wirtschaftliche, politische, juristische, wissenschaftliche und religiöse Fragen unentwirrbar. Oft erscheint das als skandalös. Wird es aber nicht auch immer öfter schulterzuckend als Normalität hingenommen? Erscheint uns die Vermischung vormals streng getrennter Interessenlagen mittlerweile nicht allgegenwärtig? Wirkt funktionale Differenzierung nicht wie die allzu schöne, ordentliche Beschreibung vergangener Zeiten? Im Buch Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter fasst Beck 2002 seinen Eindruck folgendermaßen zusammen:

„Globalisierung ist eine Niemandsherrschaft. Niemand hat sie angefangen, niemand kann sie aufhalten, niemand ist verantwortlich. Das Wort ‚Globalisierung‘ steht für organisierte Unverantwortlichkeit. Du hältst Ausschau nach jemandem, an den du dich wenden kannst, bei dem du dich beschweren kannst, gegen den du demonstrieren kannst. Aber es gibt keine Institution, keine Telefonnummer, keine Email-Adresse. Alle sind oder sehen sich als Opfer, keiner als Täter. Selbst die Konzernherren, die ‚modernen Prinzen‘, die umworben werden wollen, müssen, ihrem Selbstverständnis nach, ihr Denken und Handeln auf den Altären des Shareholder Value opfern, wollen sie ihrerseits nicht gefeuert werden. Je mehr der Globalisierungsdiskurs alle Kapillaren des sozialen Lebens durchringt, desto machtvoller werden weltwirtschaftliche Akteure und Strategien. Diese diskursive Meta-Macht der Globalisierung konkretisiert sich nicht zuletzt im Prinzip TINA: There Is No Alternative.“ (Beck 2002, S. 102)

Es scheint als hätten die Staaten die Kontrolle abgegeben. Dabei ging es der Politik stets um Ressourcenkontrolle, schon absolutistische Fürsten versuchten die volle Macht über das Land und seine Bewohner zu gewinnen. Gewerbe und Handel genossen stets deshalb mehr Freiheiten als die Bevölkerung, weil sie die Wirtschaftskraft eines Staates steigerten, was dem Staat wiederum zusätzliche Einnahmen und Ressourcen sicherte. In den Weltkriegen wurden die Unternehmen von den Staaten unter vollständige Kontrolle gebracht. Auch nach 1945 fühlten sich Konzerne lange Zeit stark ihrem Heimatstaat verbunden. Das blieb auch während des Kalten Krieges so. Erst ab 1990 griff mit dem Outsourcing die Verlagerung von Firmenstandorten um sich. In den Industrieländern entziehen sich die Finanzströme transnationaler Konzerne dem staatlichen Zugriff zur Besteuerung. Reiche Länder stehen trotzdem noch vergleichsweise gut da, wenn man bedenkt, dass nach dem Ende der Kolonialzeit überall auf der Welt Staaten entstanden sind, deren Ressourcenausstattung hinter jener von Konzernen zurückbleibt. Sie haben kaum Möglichkeiten, große Unternehmen zur Einhaltung staatlicher Vorgaben zu zwingen. Denn das würde Beck zufolge schlicht mit der „Exit-Option“ (ebd. S. 99) beantwortet werden:

„Es ist die genaue Umkehrung des Kalküls der klassischen Macht- und Herrschaftstheorie, das die Machtmaximierung transnationaler Unternehmen ermöglicht. Das Zwangsmittel ist nicht der drohende Einmarsch, sondern der drohende Nicht-Einmarsch der Investoren oder ihr drohender Ausmarsch. Es gibt nur eines, das schlimmer ist, als von Multis überrollt zu werden: nicht von Multis überrollt zu werden.“ (ebd. S. 97)

Funktionale Differenzierung im Zeitalter souveräner Nationalstaaten hieß, dass eine demokratische gewählte Regierung die Spielregeln politisch vorgibt, in deren Rahmen Unternehmen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten schalten und walten dürfen. Mit der Globalisierung hat diese Welt ihre schlichte Ordnung verloren. Völlig unüberschaubar ist längst geworden, woran sich jene politische Entscheidungen orientieren, die Wirtschaft, Wissenschaft und Recht den Rahmen vorgeben. Die Akteure bedienen sich noch immer bereitwillig den Teilsystemen moderner Staaten, je nach Ressourcenausstattung tun sie das aber unterschiedlich erfolgreich und rekombinieren die verschiedenen Sphären virtuos. Konzerne entziehen sich nationalem Recht mithilfe internationaler Organisationen oder dem Einfluss ausländischer Regierungen. Juristen verfassen für Lobby-Gruppen Gesetzesentwürfe, die von Regierungsparteien verabschiedet werden. Universitäten liefern passgenaue Studienergebnisse zur Zulassung von Medikamenten, die ebenjenen Unternehmen dienen, die Forschungsgelder zur Verfügung stellen. Kirchen treten als Träger wohltätiger Einrichtungen auf, die größtenteils staatlich finanziert werden, aber bei Einstellungen Jahrhunderte nach Einführung der Religionsfreiheit konfessionelle Zugehörigkeit berücksichtigen. Staaten brechen internationales Recht, wenn es eigenen Interessen zuwider läuft und machen dabei gerne gemeinsame Sache mit heimischen Firmen.

Auch in den großen Organisationen werden die Grenzverläufe undurchsichtiger. Entscheidungen transnationaler Konzerne erreichen mittlerweile ähnlich wie politisch herbeigeführte kollektive Verbindlichkeit, wenn etwa Internet-Unternehmen Inhalte abweichend vom jeweils landesspezifisch geltenden Recht zulassen oder blockieren. Zugleich optimieren sich Behörden, Forschungseinrichtungen und Krankenhäuser intern im Stile von Wirtschaftsunternehmen. Die Stiftung von Bill und Melinda Gates lässt sich kaum noch in eine funktionale Differenzierung einordnen. Sie verfolgt ebenso sehr wirtschaftliche Ziele mit politischen Mitteln, wenn sie ihren Einfluss bei der WHO zur Auftragsvergabe an bestimmte Firmen nutzt, wie sie politische Ziele mit wissenschaftlichen Mitteln verfolgt, wenn sie die Forschung an genmanipuliertem Saatgut fördert.

Doch nicht nur das Aufgehen des Staates in einer globalen Welt raubt funktionaler Differenzierung ihre wohlgeordnete Muster des 20. Jahrhunderts. An die Stelle internationaler Kriege und weltweiter Systemkämpfe treten innerstaatliche Konflikte und Terror. Politik, Wissenschaft, Recht, Wirtschaft und Religion gehen auf in einem ebenso undurchsichtigen wie abscheulichen Brei aus Gewalt und Partikularinteressen. Die daraus resultierenden Flüchtlingsströme sind dann eine Herausforderung für die Idee repräsentativer Demokratie. Repräsentation geht von der Stellvertretung der einer weitgehend stabilen Bevölkerung auf einem weitgehend stabilen Territorium aus. Wanderungsbewegungen durchbrechen das Konzept. Flüchtlinge haben keine Repräsentanten, Ansässige sehen ihren Einfluss zurückgehen und auf dem Kriegsgebiet werden jegliche demokratische Verfahren gewaltsam unterdrückt.

Mehr in:

Hubertus Niedermaier: Wozu Demokratie?

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Wozu Demokratie?
Politische Philosophie im Spiegel ihrer Zeit.
Konstanz und München: UVK 2017.

 

 

 

 

 

 

 

Beck, Ulrich (2002): Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie; Frankfurt am Main.

 

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