Sind wir alle verdammt?

 
Augustinus: De civitate Dei

Augustinus: De civitate Dei

Ein Zeiteuge des römischen Niedergangs war der am 13. November 354 geborene Augustinus, Sohn eines kleinen Landwirts in Nordafrika. Er wuchs damit im wichtigsten Getreideanbaugebiet Roms zu einer Zeit auf, in der Constantinus längst die christliche Wende des Reiches eingeleitet hatte. Von der Mutter christlich erzogen, hing Augustinus in seinen Ausbildungsjahren zum Rhetorik-Lehrer zwischenzeitlich anderen Glaubensrichtungen an, bis dann im Alter von 31 Jahren die völlige Hinwendung zur Religion seiner Kindheit während eines Aufenthalts in Mailand bei genau jenem Bischof Ambrosius erfolgte, der zwei Jahre später niemand geringeren als Kaiser Theodosius aus der Kirche ausschließen sollte. Das konnte Augustinus zwar nicht ahnen, aber immerhin war das Christentum zum Zeitpunkt der Bekehrung bereits Staatsreligion. Christ zu sein, war folglich kein Wagnis mehr, sondern vom Kaiser per Gesetz vorgegeben. Augustinus ging nach seiner nicht nur gesetzlich bestimmten, sondern nun auch persönlich empfundenen Übernahme des christlichen Glaubens zurück nach Afrika und gründete dort in jenem Jahr 391 ein Kloster, in dem Theodosius das Verbot aller heidnischen Kulte aussprach und damit jenem Gott tatkräftig zur Durchsetzung verhalf, den er selbst eigentlich nicht als hilfsbedürftig, da allmächtig ansah.

Wenige Jahre später wurde er Bischof von Hippo Regius (dem heute algerischen Annaba), der seinem Geburtsort nächstgelegenen Küstenstadt, wo er dann bis zu seinem Tod lebte. Von dort aus musste er mitansehen, wie das kurz zuvor erst christlich gewordene Reich in Ost und West geteilt sowie das altehrwürdige Rom durch die Goten geplündert wurde. Das Römische Reich, das bei Augustinus‘ Rückkehr nach Afrika noch riesig gewesen war, zeigte nur wenige Jahre später deutliche Spuren des Zerfalls. Germanenstämme zogen plündernd umher und erreichten auch seine Heimat. Im Jahr 430 schließlich belagerten Vandalen Hippo monatelang, währenddessen der Bischof im Alter von 75 Jahren starb. Augustinus erlebte also den Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion ebenso wie daraufhin den Niedergang des westlichen Teils des christlichen Großreiches. Was also war aus der Allmacht ihres Gottes geworden, die die Christen beanspruchten? Wo war jetzt der Gott, der Constantinus noch zur Eroberung Roms verholfen hatte? Wieso brach sein Reich auseinander? Augustinus‘ Antwort bestand darin, das christliche Denken einfach vom politischen Geschehen zu entkoppeln. Des Rätsels Lösung sah er nicht in Gottes Schwäche, sondern in der Schuld des Menschen. Denn dieser sei, wie der Bischof unter dem Eindruck der Plünderung Roms durch die Barbaren ausführte, „durch eigene Schuld verderbt und gerechter Weise verdammt“ (Augustinus 2008, XIII 14), weil er Ungehorsam war gegenüber Gott und gegessen hat vom Baum der Erkenntnis:

Adam und Eva „begingen eine so ungeheuerliche Sünde, daß dadurch die menschliche Natur verschlechtert ward, indem die Verstrickung in die Sünde und die Unvermeidlichkeit des Todes auch auf die Nachkommen überging. Die Herrschaft des Todes über die Menschen erstreckte sich aber in ihrer Gewalt so weit, daß die verdiente Strafe alle unrettbar auch in den zweiten Tod, der kein Ende hat, stürzen würde, wenn nicht Gottes unverdiente Gnade Bestimmte davor bewahrte. Und daher kommt es, daß es trotz der großen Zahl der Völker auf Erden und ihrer Vielgestaltigkeit in Sprache, Kriegswesen, Tracht, doch nur zwei Arten menschlicher Gemeinschaft gibt, die wir nach unseren Schriften recht wohl als zwei Staaten bezeichnen können. Der eine besteht aus den Menschen, die nach dem Fleische, der andere aus denen, die nach dem Geiste leben wollen, jeder in dem seiner Art zukommenden Frieden, in welchem sie auch wirklich leben, wenn sie das Ziel ihres Strebens erreichen.“ (ebd. XIV 1)

Mit Westrom wäre demnach das Christentum nicht untergegangen, sondern dessen wahrer Staat sei ohnehin nicht auf Erden zu suchen. Auf allen Menschen laste die Ursünde, wer sich aber zu Gott bekenne, könne nach dem unvermeidlichen Tod auf Erden die Aufnahme ins Himmelreich erhoffen. Dort könne Gottes Gnade erfahren, wer Gott mehr liebe als sich selbst:

„Zweierlei Liebe also hat die beiden Staaten gegründet, und zwar den Weltstaat die bis zur Verachtung Gottes gesteigerte Selbstliebe, den himmlischen Staat die bis zur Verachtung seiner selbst gehende Gottesliebe. Kurz gesagt: der eine rühmt sich in sich selbst, der andere im Herrn. Der eine sucht Ruhm bei den Menschen, für den andern ist der höchste Ruhm Gott, der Zeuge des Gewissens.“ (ebd. XIV 28)

Im Niedergang Roms zeigt sich Augustinus zufolge deshalb nicht Gottes Schwäche, denn dessen himmlischer Staat existiere völlig unabhängig von irdischen Dingen. Wer nach Erfüllung im Diesseits sucht, wäre demnach nur von Eitelkeit getrieben und würde jene Welt geringschätzen, die für den Bischof letztlich allein ausschlaggebend ist: das Jenseits. Schon klingt die Niederlage des christlichen Rom nicht mehr länger nach einem Makel der Religion, sondern scheint statt dessen der Gottlosigkeit und Selbstverliebtheit der Menschen geschuldet. Ein paar Worte nur braucht Augustinus um die über Jahrzehnte vorangetriebene Verknüpfung des Christentums mit dem gewaltigen römischen Imperium nach dessen Niedergang wieder aufzulösen. Denn gleichgültig was auf Erden geschehe, es sei von Gottes Allmacht so bestimmt gewesen:

„Und somit laßt uns die Gewalt, Herrschaft und Reich zu verleihen, allein dem wahren Gott zuschreiben, der die Glückseligkeit im Himmelreich nur den Guten verleiht, dagegen irdische Herrschaft sowohl Frommen als Gottlosen, wie es ihm gefällt, stets aber nach Recht und Billigkeit.“ (ebd. V 21)

Damit hatte Augustinus den Stellenwert, der dem Christentum beizumessen sei, völlig unabhängig von militärischen oder politischen Erfolgen gemacht. Niederlagen sind dann kein Unvermögen des eigenen Gottes gegenüber demjenigen der Feinde, sondern lediglich eine Prüfung, die seine Anhänger zu bestehen haben. Zugleich macht diese Unabhängigkeit vom Erfolg auf Erden die Christen einerseits im Kampf zäh und verbissen, da es auch und gerade in der Not gilt, an seinem Glauben festzuhalten und Gottes Prüfungen standzuhalten. Andererseits birgt die Abkopplung vom Irdischen die Gefahr, dass bei den Anhängern die Treue zu ihrer Religion nachlässt. Wenn nämlich der eigene Erfolg im Hier und Jetzt nicht mehr vom Glaubensbekenntnis abhängt, dann gibt es – zumindest im Diesseits – eigentlich keinen Grund mehr zu glauben. Um diese Schlussfolgerung zu vermeiden, muss Augustinus den Gläubigen nach dem Tod das Himmelreich versprechen und den Ungläubigen mit ewiger Verdammnis drohen. Für das eigene Seelenheil sei nicht der Erfolg auf Erden, sondern allein entscheidend, dass man sein Leben dem christlichen Glauben entsprechend führe, woraus sich dann sprichwörtlich eine Pflicht zur Barmherzigkeit, zur Versöhnung und zum Verzeihen begründet, wie sie dann auch für die mittelalterliche Fürstenherrschaft kennzeichnend wird:

„Denn wir unsererseits bezeichnen einige von den christlichen Kaisern allerdings als glücklich, aber nicht deshalb, weil sie verhältnismäßig lang regiert haben oder weil sie ruhig sterben konnten, ihren Söhnen eine gefestete Herrschaft hinterlassend, oder weil sie die Feinde des Staates bezwungen haben oder weil es ihnen vergönnt war, Bürgeraufstände gegen ihre Regierung hintanzuhalten oder niederzuwerfen. Derlei Spende und Tröstung in dieses Lebens Mühsal ward auch manchen Dämonenanbetern gewährt, die am Reiche Gottes keinen Anteil haben, wie jene; und das hat Gott so gefügt aus Erbarmnis, damit die, die an ihn glauben würden, solche Güter nicht als die höchsten von ihm begehrten. Vielmehr nennen wir sie glücklich, wenn sie ein gerechtes Regiment führen, wenn sie sich ob all der hochtönenden Schmeicheleien und der kriechenden Dienstfertigkeit, womit sie umgeben sind, nicht überheben, sondern eingedenk bleiben, daß sie Menschen sind; wenn sie ihre Macht in den Dienst der Majestät Gottes stellen, um die Gottesverehrung weithin auszubreiten; wenn sie Gott fürchten, lieben und verehren; wenn sie mehr noch das Reich lieben, in welchem ihnen Teilhaber der Herrschaft keine Besorgnis verursachen; wenn sie zögernd strafen, gern Nachsicht üben; wenn sie ihre Strafgewalt nicht zur Befriedigung feindseliger, haßerfüllter Gesinnung mißbrauchen, sondern da anwenden, wo es die geordnete Leitung und die Sicherheit des Staates erfordert; wenn sie dagegen Nachsicht walten lassen auf die Hoffnung der Besserung hin, nicht als Freibrief für die Schlechtigkeit; wenn sie die harten Verfügungen, zu denen sie sich oft genug gedrängt sehen, durch erbarmende Milde und durch reichliche Wohltaten ausgleichen; wenn sie sich selbst gegenüber die Ausschweifung in eben dem Maße zügeln, als sie sich freier ergehen könnte; wenn sie es höher stellen, ihre verkehrten Neigungen als noch soviele Völker zu beherrschen und wenn sie all das tun aus Liebe zur ewigen Seligkeit, nicht aus Gier nach eitlem Ruhme; wenn sie nicht unterlassen, für ihre Sünden das Opfer der Demut, der Erbarmnis und des Gebetes ihrem wahren Gott darzubringen.“ (ebd. V 24)

Augustinus vermittelt den Eindruck, alles sei unerheblich, so lange der Herrscher nur brav glaubt. Nicht Allgemeinwohl, nicht Frieden, nicht Sicherheit sind dann Maßstäbe guter Regierung, sondern allein gläubige Gesinnung und Milde. Der Christ herrscht folglich weniger in Verantwortung für das Gemeinwesen als vielmehr in Verantwortung für sein eigenes Seelenheil. Eine gesellschaftsvergessene Haltung, wie man sie im Umfeld religiöser Eiferer immer wieder vorfindet. Was auch immer ein Herrscher tut und welche Folgen es auf Erden zeitigt, wenn er sich damit im Einklang mit seinem Glauben wähnt, dann hat er Augustinus‘ Segen. Lassen sich damit nicht auch Grausamkeiten im Namen des Herrn rechtfertigen? Wird damit nicht das persönliche Seelenheil über das Schicksal der Allgemeinheit gestellt? Opfert man damit nicht das Diesseits auf dem Altar des Jenseits? Im Christentum jedenfalls fand diese Zwei-Reiche-Lehre großen Anklang, was zugleich den Schlusspunkt für die Antike und ihre Vorstellung von Herrschaft bedeutete, die sich stets der Bedürfnisse der Menschen auf Erden annahm. An dessen Stelle tritt das Mittelalter, wo jede Herrschaft sich nicht am Irdischen orientiert, sondern an einer religiösen Deutung des unergründlichen Jenseits und sich selbstvergessen vermeintlich göttlicher Fügung hingibt.

Gerecht herrschen für die ewige Seligkeit?

Die Verachtung des Diesseits bedeutete aber keineswegs eine völlige Abwendung des Christentums davon. Ganz im Gegenteil dazu wurde es die prägende Religion des diesseitigen europäischen Mittelalters. Ein Zeitalter der Stabilität und Kontinuität, wie es das heidnische Römische Reich über Jahrhunderte aufrechterhalten hatte, erwuchs daraus aber nicht – trotz oder vielleicht auch wegen der hohen Verhaltensmaßstäbe des Bischofs von Hippo. Das Christentum dominierte ganz Europa ohne eine Pax Christi an die Stelle der Pax Romana zu setzen.

Italien kam nicht zur Ruhe, denn um das römische Kernland rangen mit ständig wechselndem Kriegsglück jahrhundertelang so verschiedene Mächte wie das Oströmische Reich, verschiedene germanische Stämme, der päpstliche Vatikanstaat und auch einzelne italienische Stadtstaaten wie Venedig, Genua, Mailand oder Florenz. Südlich, westlich und nördlich davon setzten sich Schwergewichte durch. Hippo, der ehemalige Bischofssitz von Augustinus, war wie ganz Nordafrika bereits 170 Jahre nach dessen Tod von islamischen Arabern erobert worden, die danach auch Spanien niederwarfen. In Gallien und Germanien rissen die Franken die Macht an sich und bildeten bald schon das größte christliche Reich. Carolus Magnus (deutsch: Karl der Große) beherrschte das Gebiet von der französischen Atlantikküste bis zur Elbe und von der Nordsee bis zur Adria. Wieder einmal in Bedrängnis durch die Langobarden hatte sich Papst Hadrianus I. an den mächtigen Carolus gewandt, der ihm tatsächlich schützend zur Seite sprang und als Gegenleistung im Jahr 800 die Salbung zum Kaiser empfing. Damit war das weströmische Kaisertum an die Franken übergegangen, deren Reich sich allerdings schon wenige Jahrzehnte später in West und Ost aufteilen sollte, wobei die Kaiserkrone an die Ostfranken ging. Entsprechend nannte sich der ostfränkische Teil dann Sacrum Romanum Imperium (deutsch: Heiliges Römisches Reich) woran ab dem 15. Jahrhundert der Zusatz Nationis Germanicae (deutsch: Deutscher Nation) angefügt wurde.

War in der Antike Politik stets in der Polis begründet gewesen, so hatte sich dies mit Augustinus geändert. Für diesen bezog Politik ihre Bestimmung allein aus der Religion. Ohne übergeordnete Werte erschien ihm Politik ebenso wie das Leben auf Erden insgesamt bedeutungslos. Alles war der angeblich einzig wahren Religion mit dem einzig wahren Gott untergeordnet. Dem hatte sich jeder, auch ein Fürst, in seiner Lebensführung unterzuordnen. An die Stelle einer am Gemeinwesen orientierten Politik, traten Herrscher, die einerseits davon überzeugt waren, von Gott für ihre Machtausübung ausgewählt worden zu sein, andererseits aber die individuelle Erlösung im Jenseits, die ewige Seligkeit im Sinne Augustinus‘, anstrebten. Zur Krönung von Otto I. im Jahr 936 wurde Gott entsprechend mit folgenden Worten angerufen:

 

Johannes Fried: Das Mittelalter
Johannes Fried: Das Mittelalter

„Laß ihn, Herr, selig sein und Sieger über seine Feinde. Kröne ihn mit der Krone der Gerechtigkeit und Frömmigkeit, auf daß er aus ganzem Herzen und mit allem Verstand an Dich glaube, Dir diene, Deine heilige Kirche schütze und erhöhe, daß er das Volk, das Du ihm anvertrautest, gerecht regiere und niemand ihn durch böse Nachstellungen zur Ungerechtigkeit verleite. Entzünde, Herr, sein Herz zur Liebe Deiner Gnade durch dieses Salböl, mit dem Du die Priester, Könige und Propheten salbtest, auf daß er die Gerechtigkeit liebe und das Volk den Pfad der Gerechtigkeit führe und er nach Vollendung der von Dir gewährten Jahre in königlicher Erhabenheit zur ewigen Seligkeit zu gelangen verdiene“ (zitiert nach Fried 2008, S. 121).

Nach alldem kehrt die moderne Demokratie Jahrhunderte später nicht einfach zum politischen Denken der Antike zurück, sondern knüpft an Augustinus insofern an, dass sie die Orientierung an übergeordneten Werten beibehält, dies aber nicht mehr religiös begründet. Vielmehr halten Verfassungen oder Schriften von Verfassungsrang in jeder modernen Demokratie unhintergehbare Grundannahmen fest. Bevor sich das Festhalten an übergeordneten Werten aber von seinen religiösen Fesseln lösen konnte, mussten noch viele Jahre vergehen.

Wozu ein Reich Gottes?

Das Christentum begegnete Augustinus als diejenige Religion, die von ebenso wichtigen wie beeindruckenden Personen getragen wurde: Erstens von seiner religiös enthusiasmierten Mutter, zweitens vom frommen Kaiser, der das Christentum zur Staatsreligion erhob, und schließlich vom einflussreichen Bischof von Mailand, der ihn auch taufte. Die endgültige Hinwendung erfolgte denn auch in einer von all diesen Personen geprägten Umgebung am kaiserlichen Hof in unmittelbarer Nähe des Bischofs und unter Begleitung seiner Mutter. Die Ausstrahlung der Personen war für Augustinus wichtig: Von der manichäistischen Religion hatte er sich zuvor abgewandt, weil ihn deren Vertreter nicht zu beeindrucken vermochten. Zum Zeitpunkt der Rückreise nach Afrika und der Aufnahme des Mönchslebens gab es keinen Zweifel mehr am Siegeszug des christlichen Glaubens im römischen Reich. Augustinus‘ Religion befand sich in einer starken Position und er selbst erfuhr in seiner Glaubensausübung mit der Wahl zum Bischof außerordentliche Bestätigung. Es bedurfte keinen großen Mutes, diesen Weg zu gehen; man musste kein Vorkämpfer sein. Umso tiefer dürfte Augustinus den Einschnitt empfunden haben, den der Einbruch der Barbaren ins Römische Reich und der Zusammenbruch von dessen westlichem Teil in seine bislang wohlgeordnete Welt bedeutete.

Auf Erden gab es kein einheitliches, umfassendes, christliches Reich mehr. Für einen gläubigen Christen durfte darunter aber keinesfalls die Einheitlichkeit, Ausschließlichkeit und universelle Gültigkeit seiner Religion Beeinträchtigungen erfahren. Doch das Diesseits hatte aufgehört dafür eine hinreichende Grundlage zu bieten. Konnte aber nicht das Jenseits unabhängig davon gedacht werden? Konnte nicht dort Gottes Größe in vollkommener Ordnung erstrahlen? Konnte nicht all diese schnöde irdische Welt ein weitgehend unbedeutendes Vorgeplänkel zum unendlichen Reich Gottes sein? Der Bischof von Hippo gab dem Reich Gottes nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches und während dem allgemeinen Chaos der Völkerwanderung eine Ordnung und einen Ort, der die Gültigkeit christlicher Glaubenssätze vollkommen unabhängig machte von irdischen Vorkommnissen. Er gab inmitten turbulenter Zeiten den Christen eine Welt der Beständigkeit. Er gab der mittlerweile weitverbreitetsten Religion rund ums Mittelmeer Grundsätze, die es dem Christentum ermöglichten die Umwälzungen zu überdauern und zum alles bestimmenden Weltbild der folgenden Jahrhunderte zu werden.

Augustinus‘ Zwei-Reiche-Lehre wirkt zunächst wie ein verzweifelter Verteidigungsreflex der in Bedrängnis geratenen christlichen Ordnung und vielleicht sollte es genau das auch sein. In jedem Fall erwies sich die Hinwendung zum Jenseits als ungemein erfolgreich: Die Abwendung vom Diesseits setzte sich ebendort durch. Bietet aber nun dieses Verfahren, entkleidet von seinem religiösen Rahmen, vielleicht generell die Möglichkeit, Grundsätze ganz unabhängig davon hochzuhalten, ob diese im Alltag gerade Bestand haben oder eben nicht? Hat nicht Augustinus Überzeugungen Halt gegeben, die vor seinen Augen heftig ins Schwanken geraten waren? Könnte das auch jenseits religiöser Glaubensfragen gelingen?

Hatte Platon an die Idealität der Natur im Hier und Jetzt geglaubt, so enthebt Augustinus Ideale dieser Einschränkung und lässt sie einer übernatürlichen Welt entspringen. Wenn Hegel an Platon die Eröffnung der Intellektualwelt gelobt hat, hätte er da nicht an Augustinus die Loslösung von jeglicher Rückbindung an Natürliches loben müssen? Zweifellos fällt der Afrikaner hinter die sokratischen Selbstzweifel und die platonische Wahrheitssuche zurück, indem er sich voll und ganz einer vermeintlich göttlichen Offenbarung unterwirft. So sehr er sich aber vom Glauben einnehmen ließ, so wenig wollte er sein Denken den erbarmungslosen Tatsachen der irdischen Wirklichkeit unterwerfen. Grundsätze unabhängig von ihrer Durchsetzungsfähigkeit im Hier und Jetzt aufrechterhalten, das war die Formel, mit der Augustinus dem Christentum dabei half, die Wirren zu überdauern. Sind nicht alle modernen Demokratien ebenfalls darauf angewiesen? Müssen nicht auch sie an Grundsätzen festhalten, selbst wenn ihre Durchsetzung im Diesseits sich gerade schwierig gestaltet? Brauchen nicht insbesondere Demokraten eine hohe Widerstandskraft gegen die erbarmungslos widerstrebenden Kräfte der irdischen Wirklichkeit?

Mehr in:

Hubertus Niedermaier: Wozu Demokratie?
Hubertus Niedermaier: Wozu Demokratie?

Hubertus Niedermaier:
Wozu Demokratie?
Politische Philosophie im Spiegel ihrer Zeit.
Konstanz und München: UVK 2017.











Augustinus (2008): Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat (De civitate Dei). http://www.unifr.ch/bkv/bucha91.htm

Fried, Johannes (2008): Das Mittelalter. Geschichte und Kultur; München.

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