Keine Vernunft ohne Freiheit?

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Vier Jahre vor der Französischen Revolution, neun nach der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und zwei nach Ende des darauf folgenden Krieges erschien in Preußen 1785 mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von Immanuel Kant eine Moralphilosophie mit dem Anspruch, dass sie nicht nur für Menschen, sondern für alle vernünftigen Wesen gelten müsse und sich allein aus deren Vernunft ableiten lasse. Kann man also die Frage danach, was gut und was böse ist, was man tun und was man lassen soll, beantworten, ohne auf eine göttliche Offenbarung diesbezüglich oder eine andere äußere Quelle von Verhaltensvorschriften zurückzugreifen? Kant geht davon aus, dass das möglich ist, wobei individueller Freiheit eine zentrale Rolle zukommt:

„Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmten Ursachen der Sinnenwelt (…) ist Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum Grunde liegt, als Naturgesetz allen Erscheinungen.“ (Kant 1974a, S. 88f, BA 109)

Um gut oder böse sein zu können, muss man sich entscheiden können, anders zu handeln. Wer nicht anders kann, dem kann man das ebenso wenig vorwerfen wie einem Stein, der sich im Sturm vom Hang löst und einem auf den Fuss fällt. Vernünftig handeln kann folglich nur, wer nicht von vornherein festgelegt ist, sondern auch einen anderen Weg einschlagen könnte und hierin frei ist. Freiheit allein genügt für moralisches Handeln aber noch nicht, wenn sie in Beliebigkeit mündet und keine Kriterien für richtig oder falsch kennt. Eine Entscheidung einer geworfenen Münze zu überlassen, überantwortet sie dem Zufall, macht sie aber nicht besser. Es rechtfertigt sie nicht. Es bedarf eines Urteilsvermögens, das Vernunft walten lässt und dadurch in der Lage ist, gut von böse zu unterscheiden. Wann immer man also ein Lebewesen moralischer Urteile für fähig halten will, muss man sowohl Vernunft als auch Freiheit voraussetzen. Gedankliche Unabhängigkeit von der sinnlichen Welt bildet die unverzichtbare Voraussetzung dafür, nicht vollkommen festgelegt zu sein, und sich abwägend auch anders entscheiden zu können. Wer den Menschen als vernünftiges Wesen ansieht, muss ihn demzufolge unweigerlich auch als frei ansehen. Anders als in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und bei Locke ist Freiheit dann kein gottgegebenes Recht, das eingefordert werden kann, und anders als im Mittelalter oder in der Antike ist sie auch nicht davon abhängig, welchem Familienstamm man angehört oder ob man über ausreichend Besitz verfügt, sondern Freiheit ist für den aufgeklärten Philosophen immer dann gegeben, wenn Vernunft gegeben ist. Beides ist untrennbar verbunden.

Der am 22. April 1724 geborene Kant hat selbst erlebt, dass sich die Menschen zunehmend nicht mehr als Spielball göttlichen Willens betrachteten, sondern begannen, Gegebenes zu hinterfragen und ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Die USA sagten sich von jeder überkommenen Ordnung los und obwohl sie sich weiterhin auf Gott beriefen, so wollten sie eben nicht die Welt, wie sie war, als gottgegeben hinnehmen. Aber auch schon die Besteuerung der Kolonien durch die Briten, entsprach nicht mehr dem alten Verfahren, wonach Gesetze aus gängigen Gewohnheiten übernommen wurden, sondern hier wurden sie bewusst als Regierungsinstrument eingesetzt. Zugleich begann der technologische Fortschritt handwerkliche Arbeitsweisen durch industrielle zu ersetzen. Mit Einführung der Spinnmaschine und dem mechanischen Webstuhl verbilligten sich Textilien erheblich. Die Industriellen brachen aus der mittelalterlichen Handwerksordnung aus, erprobten neue Technologien und häuften Reichtümer an, wenn sie erfolgreich waren. Auf der anderen Seite verloren viele Menschen ihr Auskommen, weil sie aufgrund der niedrigen Preise industriell hergestellter Produkte mit ihrer traditionellen Handwerkskunst nicht mehr genug Geld verdienen konnten. Im heimischen Preußen hatte Kant erlebt, wie Friedrich II. (der Große) durch gezielte Ansiedlung von französischen Hugenotten sowie Holländern, Toleranz gegenüber anderen Religionen, Förderung von Wissenschaft und Handel sowie Aufbau eines schlagkräftigen Heeres aus einem kleinen Bauernstaat die fünfte Großmacht Europas gemacht hatte. Ohne Demut und Gottgläubigkeit wurde ein moderner Staat durch reine Willensanstrengung im Bewusstsein völliger Entscheidungsfreiheit hervorgebracht.

All diese Veränderungen waren menschengemacht und folgten keiner Idee einer göttlichen Ordnung. Kurzum, Kant war Zeitzeuge einer Epoche, die er selbst als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1977a, S. 53) beschreibt: der Aufklärung. Die neue Mündigkeit besteht im selbständigen Gebrauch der Vernunft und in der grundsätzlichen Überzeugung, dem Menschen stehe es frei, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Freiheit ist die Grundlage der amerikanischen Revolution ebenso wie sie die Grundlage für Unternehmer ist, die Produktion auf eine neue Technologie umzustellen. Freiheit ist die Grundlage des Zutrauens eines jeden, sich seiner Vernunft folgend auch anders entscheiden zu können.

„Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urteile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff, und kann es auch nicht sein, weil er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegenteil von denjenigen Forderungen zeigt, die unter Voraussetzung derselben als notwendig vorgestellt werden. Auf der anderen Seite ist es eben so notwendig, daß alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnotwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum, weil er den Begriff der Notwendigkeit, mithin einer Erkenntnis a priori, bei sich führet. Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt, und muß selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstände der Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muß.“ (Kant 1974a, S. 91f, BA 113f)

Das Niederfallen des Steins, nachdem er losgelassen wurde, erscheint als zeitlose, unabänderliche Notwendigkeit der Natur. Die Wiederkehr natürlicher Abläufe macht naturgesetzliche Vorgänge vorhersehbar. Dadurch, dass jede Wirkung einer Ursache bedarf, kann man aufgrund Erfahrung Ereignisketten voraussehen. Der Mensch lässt sich diesem Schema jedoch nicht unterordnen. In seiner Freiheit widersetzt er sich solcher Notwendigkeit, sodass man unter Bedingungen der Freiheit aus vorangegangenen Situationen eben nicht zwangsläufig auf nachfolgende schließen und deshalb auch nicht auf Erfahrungen aufbauen kann. Den Begriff der Erfahrung benutzt Kant hier also ganz streng für das Voraussehen von Wirkungen naturgesetzlicher Abläufe. Im zwischenmenschlichen Bereich gibt es jedoch keine Sicherheit darüber, was als nächstes passiert, weil die Menschen eben über Freiheitsgrade verfügen. Ohne Zweifel helfen auch hier Erlebnisse aus der Vergangenheit, um Darauffolgendes vorauszuahnen, was man im heutigen Alltagsgebrauch ebenfalls Erfahrung nennt, aber nicht jene strenge Voraussehbarkeit meint, wie sie aus Naturgesetzen folgt. Im Zwischenmenschlichen Bereich dient Erfahrung vielmehr dazu, die Vernunft anderer anzusprechen und so der grundsätzlichen Entscheidungsfreiheit ein Stück ihrer Beliebigkeit zu rauben.

Keine Moral ohne Notwendigkeit?

Der freie Wille lässt sich nicht aus Naturnotwendigkeiten herleiten, weil er gerade die Entkopplung von denselben voraussetzt. Er kann nicht einfach nur die zwangsläufige Folge verschiedener verursachener Ereignisse sein, muss aber zugleich mehr sein als schlicht zufällig. Nur wenn er weder in der Notwendigkeit noch im Zufall aufgeht, ist es möglich, ihn einer Wertung zu unterziehen. Denn im unerbittlichen Reich der Notwendigkeiten ergeben moralische Urteile ebenso wenig Sinn wie im Reich des vollständigen Zufalls, nur im Reich der Freiheit kann es Gut und Böse geben. Deshalb kann Kant formulieren:

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könne gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (Kant 1974a, S. 18, BA 1)

Nicht in göttlichen Ideen wie Platon oder in Gottes Offenbarung wie die Christen fand der preußische Philosoph das Gute, sondern er sieht dafür als einzig verbliebenen Ort jenen, an dem die Gesetze der Natur nicht jede Bewertung durch ihre Zwangsläufigkeit aushebeln. Der freie Wille kann diese Rolle aber nur einnehmen, solange er sich dem Vernünftigen verprlichtet fühlt und damit nicht in Beliebigkeit verliert. Daran hat Kant keinen Zweifel, denn „der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt.“ (ebd. S. 41) Während also Vernunft die Freiheit einerseits voraussetzt, um abwägen zu können, schränkt sie Freiheit zugleich ein, um nicht beliebig zu sein. Zwar ist sie nicht in Notwendigkeiten gefangen, dennoch findet sie ihre Schranken darin, was ihr selbst als richtig und damit unausweichlich erscheint. Die Vernunft verpflichtet sich selbst und beugt sich zwar nicht der äußeren, aber immerhin einer inneren Notwendigkeit, die ihr zur Pflicht wird. Was als gut und was als böse zu gelten hat, kann dann aber auch nur dieser inneren Verpflichtung folgen, weshalb Kant für eine Pflichtethik eintritt. Allein die inneren Leitlinien, nicht die Folgen, sind demnach für die moralische Richtigkeit einer Handlung ausschlaggebend:

„eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Prinzip des Wollens, nach welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen ist.“ (ebd. S. 26, BA 13)

Gut handelt man demzufolge dann, wenn man sich in seinem Wollen an die richtigen Leitlinien hält, und nicht, wenn man sich an den richtigen Zielen orientiert. Dann wäre es folglich auch in jenen Fällen gut, bei der Wahrheit zu bleiben, wenn die Lüge nicht nur Vorteile, sondern womöglich gar Leben zu retten verspricht. Was, wenn ein bedrohter Mensch zu einem ins Haus flüchtet und der Mörder gleich darauf vor der Tür steht? Darf man dann lügen, um ein Eindringen zu verhindern? Nein, antwortet Kant.

„Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen; und, ob ich zwar dem, welcher mich ungerechter weise zur Aussage nötigt, nicht Unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich doch durch eine solche Verfälschung, die darau auch (obzwar nicht im Sinn des Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupft Unrecht: d. i. ich mache, so viel an mir ist, daß Aussagen (Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird.“ (Kant 1977b, S. 638, A 304f)

Wer lügt, sorge dafür, dass die Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen wird – nicht nur die eines Menschen, sondern die aller Menschen. Dann wisse man nicht mehr, was man glauben kann. Der Preuße betrachtet jede Lüge als Gefahr der öffentlichen Ordnung. Ganz ohne Zweifel kann es um diese dann heute nicht gut bestellt sein und wenn man davon ausgeht, dass auch vor gut 200 Jahren manches Mal gelogen wurde, dann dürfte es sich damals nicht anders verhalten haben. Wäre die Welt besser ohne Lügen? Wer würde tatsächlich aus Prinzipientreue jemanden ans Messer liefern, dem er kurz zuvor Zuflucht gewährt hat? Kant sieht darin die Pflicht eines jeden. Es könne schließlich sein, dass der Verfolgte sich unbemerkt durch die Hintertür davongemacht hat, dann aber seinem Mörder in die Arme läuft, weil dieser eben keine Zeit damit verloren hat, das Haus zu durchsuchen. Dann hätte die Lüge dem Fliehenden das Leben gekostet. Wer lügt, müsse die Folgen verantworten, meint Kant. Und wer nicht lügt, der etwa nicht?

„Er selbst tut also hiemit dem, der dadurch leidet, eigentlich nicht Schaden, sondern diesen verursacht der Zufall.“ (ebd. S. 641)

Gemäß dem Philosophen ist man also fein raus, wenn man stets bei der Wahrheit bleibt, auch wenn den Schaden der beste Freund davonträgt. Ob der das dann auch so sieht? Ob auch der sein Ableben schlimmstenfalls als Zufall und unvermeidbaren Tribut an die übergeordnete Pflicht gegenüber der Menschheit bewerten wird? Das spielt für Kant jedenfalls keine Rolle. Ausnahmen stünden seinem Ziel ohnehin nur im Weg. Auf der Suche nach einem allgemeingültigen Prinzip der Pflicht kann auf Einzelschicksale keine Rücksicht genommen werden. Solche Zufälle bei Seite setzend leitet Kant dann eine einzige vernunftgemäße Regel ab, die für alle gleichermaßen gelte:

„Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung, auch ohne auf die daraus erwartete Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.“ (Kant 1974a, S. 28, BA 17)

Über die Selbstverpflichtung der Vernunft und dem Anspruch auf ein allgemeingültiges Prinzip gelangt Kant somit letztlich zu einer abgewandelten Form der sogenannten goldenen Regel, die man schon im alten Testament findet:

„Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ (Deutsche Bibelgesellschaft 1999, S. 946, Tob 4,16)

Im Ergebnis mögen die beiden Sätze gar nicht so weit auseinander liegen, in ihren Grundlagen schon. Die goldene Regel bezieht ihren Geltungsanspruch aus der biblischen Offenbarung, Kants „kategorischer Imperativ“ (Kant 1974a, S. 51; BA) dagegen aus der Vernunft. Letzterer beansprucht deshalb jederzeit allgemeine Gültigkeit, Universalität, weshalb er inhaltlich nicht näher bestimmt ist. Der darin liegende Vorteil ist zugleich ein Nachteil, weil damit noch jeglicher inhaltliche Maßstab für knifflige Fragen fehlt: Muss man bei einer schwierigen Geburt stärker auf das Leben der Mutter oder auf das Leben des Kindes achten? Darf ich meinen unerträglichen Hahn töten, meinen unerträglichen Nachbarn aber nicht? Darf ich mit einem mündigen Bürger einen Vertrag abschließen, obwohl ich weiß, dass mein gegenüber sich der Tragweite nicht bewusst ist? Der kategorische Imperativ sagt dazu direkt nichts, konkrete Antworten müssten also abgeleitet werden. Nur eine inhaltliche Bestimmung hebt Kant noch vor: Vernunftbegabte Wesen stellen für ihn einen Wert an sich dar, weil sich der kategorische Imperativ sonst seiner eigenen Voraussetzung berauben würde.

„Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant 1974a, S. 61, BA 66f)

Unabhängig davon, ob man einer reinen Pflichtethik zustimmen kann oder nicht, bleibt in jedem Fall festzuhalten, dass Kant die Moralphilosophie in ein Zeitalter gehoben hat, in das sich Naturwissenschaft und Industrie schon aufgemacht hatten, nämlich in jenes der Loslösung von religiösen Vorgaben. Selbst wenn man die Frage, ob es tatsächlich genügt, sich seiner Pflichten zu besinnen, um ein moralisch vertretbares Leben zu führen, deshalb noch nicht als ein für alle Mal entschieden ansehen will, so führt doch keine aufgeklärte Diskussion mehr daran vorbei, sich wie Kant zu fragen, was vernüftigerweise gelten solle. Glaubenssätze allein können diesen Anspruch auf Nachvollziehbarkeit durch den eigenen Vernunftgebrauch nicht einlösen. Sie verweisen in ihrer Begründung stets auf übermenschliche Kräfte.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft

Demgegenüber hatte Kant auf die Moralphilosophie das gleiche Verfahren angewandt, wie vier Jahre zuvor auf die Erkenntnistheorie. In seiner Kritik der reinen Vernunft von 1781, die dem bis dahin eher unbekannten Philosophen aus dem ostpreußischen Königsberg (heute russisch: Kaliningrad) im Alter von 57 Jahren großen Ruhm einbrachte, fragte er nach den „Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntis“ (Kant 1974c, S. 129, B 122). Er legte dar, dass diese, anders als von Locke behauptet, nicht allein auf Erfahrung fußen könne, weil die Wahrnehmung allein keinerlei Kategorien dafür bereithalte, das Wahrgenommene einzordnen.

„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. (…) Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“ (Kant 1974b, S. 98, B 76f)

Es könne keine Erkenntnis ohne Begriffe geben, weil es eines ordnenden Verstandes brauche, um die Wahrnehmungen in den richtigen Zusammenhang zu bringen.

„Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt.“ (ebd. S. 179, A 125)

In seiner Moralphilsophie erarbeitet Kant daran anknüpfend die Bedingungen der Möglichkeit ethischen Handelns und findet eine wesentliche in der Freiheit: ohne Freiheit keine Moral! Hieran fügt sich jede aufgeklärte Ethik und jedes moderne Rechtsverständnis. Nur wer anders hätte handeln können, kann schuldig sein. Ohne dass man sogleich Kants Pflichtethik zustimmen müsste, so muss man doch zumindest anerkennen, dass die moderne Gesellschaftsordnung ohne die grundlegende Annahme von Willensfreiheit nicht auskommt. Die amerikanische Revolution hat noch eine religiöse Rückversicherung bei Gott in Anspruch genommen, bei der Französischen Revolution, die schon bald heraufzog, war das dann nicht mehr der Fall. Dort spielte vielmehr ein aufgeklärter Rationalismus eine wichtige Rolle, von einer Kantischen Pflichtethik fehlte jedoch jede Spur. Wer weiß, vielleicht hätten sich die Auswüchse geringer ausgenommen, wäre eine solche Moralphilosophie bekannter gewesen.

Ist der Mensch gesellig oder ungesellig?

Doch bevor in Frankreich Revolutionäres sich Bahn bricht, bringt Kant noch sein Menschenbild zu Papier. Obwohl er davon ausgeht, dass die Vernunft den Menschen dazu zwingt, sich an den kategorischen Imperativ zu halten, so ist er der moralischen Vertrauenswürdigkeit seiner Mitbürger in der Praxis doch nicht sicher. Er sieht die Menschen sowohl harmonisch nach Gesellschaft streben als auch nach eigenen Vorteilen, Vorlieben und Vorsätzen selbstsüchtig handeln. Gerade dieser Widerspruch aber treibe zu Höchstleistungen an.

Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzelnen (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seiner Seits zum Widerstande gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden, und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. (…) Ohne jene, an sich zwar eben nicht liebenswürdige, Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen notwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe, alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“ (Kant 1977a, S. 37ff, A392ff)

Die Höchstleistungen des Menschen entspringen seiner Ehr-, Hab- und Herrschsucht meint jener Königsberger Philosoph also, der niemals seine Heimatstadt mehr als nur für wenige Kilometer verlassen hat. Zugleich brauche der Mensch Gesellschaft, um sich als Mensch zu fühlen. In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht aus dem Jahr 1784 sieht Kant es deshalb als höchste und zugleich schwierigste Aufgabe der Menschengattung an eine „vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung“ (ebd. S. 39, A394f) zu schaffen. Aufgrund seiner ungeselligen Geselligkeit bedürfe der Mensch nämlich der Zähmung. Doch wer soll diese leisten?

Dieses Problem ist zugleich das schwerste, und das, welches von der Menschengattung am spätesten aufgelöst wird. Die Schwierigkeit, welche auch die bloße Idee dieser Aufgabe schon vor Augen legt, ist diese: der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen; und, ob er gleich, als vernünftiges Geschöpf, ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit aller Schranken setze: so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche, und ihn nötige, einem allgemein-gültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen. Wo nimmt er aber diesen Herrn her? Nirgend anders als aus der Menschengattung. (…) Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst, und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt.“ (ebd. S. 40f, A396ff)

Ist das Problem schon auf staatlicher Ebene schwer zu lösen, so wird die Lage noch dadurch erschwert, dass auf zwischenstaatlicher Ebene die gleiche Problematik noch einmal zum Zuge kommt. Auch die Staaten stehen zueinander in ungebundener Freiheit, sodass keiner vom anderen Wohlverhalten erwarten könne, solange kein internationaler „Völkerbund“ (ebd. S. 41, A398f) geschaffen sei. Trotzdem glaubt Kant die Menschheit zielgerichtet auf dem richtigen Weg:

„Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“ (ebd. S. 45, A403)

Wenige Jahre vor der französischen Revolution sieht der preußische Philosoph eine notwendige Entwicklung hin zur bestmöglichen staatlichen Verfassung. Die aufstrebende Entwicklung Preußens unter Friedrich hatte ihm offensichtlich Mut gemacht.

Mehr in:

Hubertus Niedermaier: Wozu Demokratie?

Hubertus Niedermaier: Wozu Demokratie?

Hubertus Niedermaier:
Wozu Demokratie?
Politische Philosophie im Spiegel ihrer Zeit.
Konstanz und München: UVK 2017.

 

 

 

 

 

 

 

Deutsche Bibelgesellschaft (1999, Hg.): Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. Stuttgart.

Immanuel Kant (1974a): Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werke Band VII; Frankfurt am Main.

Immanuel Kant (1974b): Kritik der reinen Vernunft. Band 1. Werke Band III. Frankfurt am Main.

Immanuel Kant (1977a): Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Werke Band XI; Frankfurt am Main.

Immanuel Kant (1977b): Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen; S. 637-643 in: ders.: Die Metaphysik der Sitten. Werke Band VIII. Frankfurt am Main.

 

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