Im Jahr 399 vor Christus, also vor mehr als 2400 Jahren, steht in Athen ein siebzig Jahre alter Mann vor Gericht. Ihm werden so schwere Verbrechen zur Last gelegt, dass ihm die Todesstrafe droht, sollte das Gericht ihn für schuldig befinden. Ihm wird vorgeworfen, dass er „die Jugend verderbe und die Götter, welche der Staat annimmt, nicht annehme“ (Platon 1994, S. 21). Es ist allerdings nicht so, dass der alte Mann die griechischen Götter jener Zeit lästern oder die ihnen gewidmeten Tempel entweihen würde. Er hat auch keine jungen Menschen verletzt oder sie schlecht behandelt. Das geben auch diejenigen zu, die ihn anklagen. Dennoch soll das, was dieser alte Mann getan hat, so schwerwiegend gewesen sein, dass der Tod als angemessene Strafe angesehen wird. Was aber hat er eigentlich getan?
Der alte Mann ging jahrelang jeden Tag auf den Athener Marktplatz und kam dort mit anderen Menschen ins Gespräch. Die Unterhaltung verlief oftmals ebenso angeregt wie anregend, sodass sie Zuhörer anlockte. Durch seine Redegewandtheit und klare Gedankenführung gewann der Mann junge Anhänger, die ihn häufig begleiteten, um von ihm zu lernen. Dennoch sollen genau diese Gespräche der Grund für die Anklage sein.
Reden gegen die Langeweile?
Solcherlei Diskussionen mit Zuhörern waren damals allerdings keine Seltenheit. Im Gegenteil, sie waren sogar so häufig, dass sich ein eigener Berufsstand darauf spezialisierte: die Sophisten. Die lieferten sich öffentlich Rededuelle, um ihr Können unter Beweis zu stellen, denn sie lebten davon, andere von ihren Fähigkeiten zu überzeugen, um dann gegen Bezahlung in der Redekunst zu unterweisen. Dass Redefertigkeiten und öffentliche Dialoge in Athen damals einen so hohen Stellenwert genossen, dafür gibt es mindestens zwei Gründe:
Der erste Grund ist eher technischer Natur: Es gab kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitung, keinen Buchdruck, kein Telefon, keine Computer, kein Internet. Es fehlten all die technische Errungenschaften, die uns heute mit Unterhaltung, Neuigkeiten und Zerstreuung versorgen. Im alten Athen musste all das die öffentliche Rede leisten, während zuhause Langeweile drohte.
Die Abwesenheit medialer Ablenkung galt freilich für die gesamte Vormoderne, die Athener aber waren besonders diskussionsfreudig; was an einem anderen Grund liegt: Sie führten erstmals in einem größeren Gemeinwesen die Demokratie ein. Erstmals durfte sich jeder Bürger an der Regierung beteiligen und bei Dingen mitbestimmen, die den gemeinsamen Staat betrafen. Und das kam so: Lange Zeit herrschten über Athen alteingessesene, reiche Familien, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, wie damals Krieg geführt wurde. Wenn zwei griechische Städte gegeneinander in die Schlacht zogen, was durchaus häufiger vorkam, dann kam den am schwersten bewaffneten Kriegern, den so genannten Hopliten, die entscheidende Rolle zu. Rüstung und Bewaffnung bestehend aus Helm, Schild, Lanze, Schwert und Brustpanzer waren aber sehr kostspielig. Zudem musste man sich Sklaven leisten können, die sich während des Krieges um Haus und Hof kümmerten. Nur reiche Athener hatten daher die nötigen Mittel, um als Hopliten in den Kampf zu ziehen. Da sie aber die Stadt verteidigten, sahen sie es auch als ihr Recht an, die Herrschaft auszuüben. Wer hätte ihnen angesichts ihrer Bewaffnung auch widersprechen wollen?
Rudern für die Demokratie?
Doch im Jahr 480 vor Christus wurde Athen nicht von einer anderen griechischen Stadt, sondern von den Persern angegriffen. Die rückten nicht nur auf dem Landweg mit einem riesigen Heer, sondern zugleich auf dem Seeweg mit einer großen Flotte an. Dem Heer stellten sich die Hopliten entgegen, für den Kampf auf dem Meer brauchte man aber keine schwerbewaffneten Krieger, sondern Ruderer. Man brauchte sogar sehr viele Ruderer, denn für ein einziges griechisches, gut dreißig Meter langes Kriegsschiff benötigte man 200 Mann Besatzung. Weil die Athener 180 solcher Holzschiffe hatten, wurden folglich 36.000 Männer benötigt. Zwar standen Segel zur Verfügung, da aber Kanonen 1800 Jahre vor Erfindung des Schwarzpulvers noch unbekannt waren, bestand die Kriegführung darin, dass man andere Schiffe mit möglichst hoher Geschwindigkeit rammte, weshalb am Bug ein Rammbock angebracht war. Damit man unabhängig vom Wind angreifen konnte, packte man möglichst viele Männer auf eine solche Triere. Dies bedeutet übersetzt Dreiruderer, weil die Ruderer auf drei großen Stufen übereinander saßen. Die ganze Bauweise war auf Schnelligkeit ausgelegt, sodass bis zu dreizehn Stundenkilometer erreicht wurden, dafür sanken die Schiffe im Sturm umso leichter.
Als nun die Perser anrückten, konnten die Hopliten dem Gegner zwar schwere Verluste zufügen, doch trotz Unterstützung durch Soldaten anderer griechischer Städte, war die Übermacht zu groß. Die Feinde rückten nach Athen vor und plünderten die Stadt. Xerxes I., König der Perser, nahm daraufhin siegessicher auf einem Thron am Ufer Platz, um der Seeschlacht beizuwohnen. Doch die griechische Flotte, die zuvor noch die athenische Bevölkerung auf die vorgelagerte Insel Salamis übergesetzt hatte, nutzte ihre bessere Ortskenntnis und besiegte die zahlreicheren feindlichen Schiffe. Die Perser zogen sich daraufhin hastig aus Athen zurück, da sie Angst hatten, die griechische Flotte könnte ihnen den Rückweg abschneiden.
Damit war der Demokratie in Athen der Weg geebnet, denn trotz der Tapferkeit der circa 10.000 Hopliten hatten diesmal die Ruderer ganz erheblich zur Verteidigung der Stadt beigetragen. Athen hatte zwar noch wesentlich mehr Bewohner als die insgesamt etwa 50.000 Hopliten und Ruderer, doch nur diese zählten als Bürger Athens. Die knapp 100.000 Frauen und Kinder hatten ebenso wenig Bürgerrechte wie die circa 80.000 Sklaven und 25.000 freien Ausländer, Metöken genannt (vgl. Bleicken 1995).
Auch nach dem Sieg über die Perser brach die Demokratie nicht mit einem Mal hervor, sondern die ärmeren Bürger Athens erlangten nach und nach mehr Mitbestimmungsrechte. Wenn aber in einer solchen Volksherrschaft alle Bürger mitbestimmen, dann müssen auch alle Entscheidungen öffentlich diskutiert werden. Umso mehr Menschen aber einbezogen werden, desto wichtiger wird die Fähigkeit, möglichst viele zu überzeugen. Und genau deshalb gab es damals in Athen zahlreiche Sophisten. Einen schweren Stand hatten diese dennoch, schließlich basiert Redefertigkeit immer auch darauf, vermeintlich Selbstverständliches, Gewohntes und traiditionell Überliefertes in Frage zu stellen. Demokratie wurde überhaupt erst möglich, weil die Herrschaft des alten Adels, die Aristokratie, eben nicht mehr als selbstverständlich hingenommen wurde. Immer aber, wenn man Traditionen anzweifelt, rührt man an die Überzeugungen und Vorrechte derjenigen, die von der gewohnten Ordnung profitieren. Damit macht man sich allerdings stets auch Feinde.
Sind Wolken mächtiger als Zeus?
Sokrates, so hieß der alte Mann, von dem vorhin die Rede war, galt vielen als der größte Sophist seiner Zeit. Seine Stellung war so herausragend, dass der Dichter Aristophanes in einem berühmten Theaterstück die Figur des Sophisten sogar nach ihm benannte. Allerdings kommt Sokrates darin nicht gut weg.
Das Stück beginnt damit, dass ein Bauer sich eingestehen muss, dass er seine Schulden nicht mehr bedienen kann, die sich durch die Pferdeliebe seines Sohnes angehäuft haben. In seiner Not wendet er sich an seinen Nachbarn Sokrates, denn er möchte die Redekunst erlernen, „um das Recht zu verdrehn und den Gläubigern glatt zu entschlüpfen!“ (Aristophanes 1963, S. 31) Doch in seinem hohen Alter lernt der Bauer die kunstvolle Rede nicht mehr. Er kann sich lediglich merken, dass Sokrates die Wolken göttlich nennt, weil sie und nicht Zeus Regen, Donner und Blitz hervorbringen. In seiner Verzweiflung überredet er seinen Sohn dazu, an seiner Statt die Rhetorikschulung bei Sokrates zu besuchen. Der jedoch verwendet nach seiner Rückkehr die neu erworbenen Redekünste nicht darauf, die Gläubiger um ihr Recht zu bringen, sondern um zu erklären, weshalb auch ein Sohn seinen Vater schlagen darf, wenn er doch von diesem, als er klein war, ebenfalls geschlagen wurde. Bei Aristophanes klingt das so:
„PHEIDIPPIDES (SOHN): Und frag zuerst dich: Hast mich du, als klein ich war, verhauen?
STREPSIADES (VATER): Nun, wohl. Doch war’s doch nur aus Lieb‘ und Fürsorg‘!
PHEIDIPPIDES: Gut. Nun sag mir: Sollt‘ ich nicht da mit gleichem Recht für dich in Liebe sorgen, und dich verhauen, wenn denn schon das Lieben liegt in Hieben?“ (Aristophanes 1963, S. 88)
Vom Sohn dann übel zugerichtet und von den Gläubigern verklagt sucht der Bauer schließlich nach der Ursache für sein Unglück und meint sie in mangelnder Gottesfurcht zu finden, weshalb er es demjenigen heimzahlen möchte, der ihn von seinem Glauben an Zeus abgebracht hat: Und das war Sokrates!
Das Theaterstück wurde in Athen 24 Jahre vor dem angesprochenen Gerichtsverfahren aufgeführt und endet damit, dass sich der Bauer sogleich an Sokrates‘ Haus zu schaffen macht, um „möglichst schnell ans Haus der Fasler ein Feuer“ (Aristophanes 1963, S. 93) zu legen. Der Vorwurf, die Jugend zu verderben und die Götter nicht angemessen zu ehren, steht also schon lange im Raum. Die Anklagepunkte könnten also nur vorgeschoben sein, denn mit diesen Gründen hätte man schon viel früher Anklage erheben können. Sokrates vermutet deshalb, dass er aus einem anderen Grund manchen Mitbürgern ein Dorn im Auge ist und man ihn gern zum Schweigen bringen würde. Pythia, die weissagende Priesterin von Delphi, tat einige Jahre zuvor einen Orakelspruch demzufolge niemand weiser sei als Sokrates. Dieser konnte sich das nicht erklären und sprach deshalb mit den besten Staatsmännern, Dichtern und Handwerkern. In allen Fällen fiel ihm auf, dass diese Männer vieles wussten, aber ebenso selbstsicher darüber schwadronierten, worüber sie nichts wussten. Weshalb Sokrates zu dem Schluss kommt: „Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein (…), daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“ (Platon 1994, S. 18) Das Vorgehen kam allerdings bei seinen Gesprächspartnern oftmals nicht gut an, wie Sokrates selbst in seiner Verteidigungsrede vor Gericht feststellt: „Aus dieser Nachforschung also, ihr Athener, sind mir viele Feindschaften entstanden, und zwar die beschwerlichsten und lästigsten, so daß viel Verleumdung daraus entstand, und auch der Name, daß es hieß ich wäre ein Weiser. Es glauben nämlich jedesmal die Anwesenden, ich verstände mich selbst auf das, worin ich einen andern zuschanden mache.“ (Platon 1994, S. 20)
Fragen statt Antworten?
Zuschanden macht Sokrates andere, weil seine Gesprächsführung darauf basiert, sein Gegenüber durch gezielte Fragen auf Widersprüche aufmerksam zu machen, um ihn durch weitere Fragen dann auf widerspruchsfreie Lösungen zu lenken. Diese Methode nennt Sokrates – in Anspielung auf den Beruf seiner Mutter – Mäeutik, also Hebammenkunst. Der Gesprächspartner soll unterstützt durch Fragen die Wahrheit möglichst aus sich selbst hervorbringen. Dieses Vorgehen bringt es freilich mit sich, dass mancher sich vorgeführt vorkommen mag. Sokrates ist sich dessen offenbar auch bewusst, sieht darin aber keinen Anlass für eine Verfahrensänderung. Noch in seiner Verteidigungsrede gegen das drohende Todesurteil weist er darauf hin, dass er die Athener weiterhin im Dienste der Wahrheit „zu ermahnen“ (Platon 1994, S. 28) gedenke, sollte er freigesprochen werden. Je nach Standpunkt kann man das als Prinzipientreue sehen – oder aber als Drohung. Weniger philosophie-begeisterte Menschen tendieren womöglich überwiegend zu letzterer Einschätzung und auch im antiken Athen dürften diese Menschen in der Mehrheit gewesen sein.
Nun steht der weiseste Sophist seiner Zeit also vor Gericht und verteidigt sich mit den Worten: „von mir selbst wußte ich, daß ich gar nichts weiß, um es geradeheraus zu sagen“ (Platon 1994, S. 19). Was er wiederum wusste, weil er andere mit seinen Fragen zum zweifeln und verzweifeln brachte. So anstrengend das für seine Mitmenschen gewesen sein mag, Sokrates erhob damit die Weisheit des Fragens über die Klugheit des Antwortens und legte damit einen wichtigen Grundstein für die Philosophie. Er selbst bezeichnete sich denn auch als Philosophen, weil er für seine Gespräche und Ausführungen kein Geld nahm und zu seinen Überzeugungen stand. Sophisten hingegen boten ihre Redekünste gegen Geld an und mussten schon allein deshalb ihre jeweils vertretenen Standpunkte an den wechselnden Geldgebern ausrichten. Sie verstanden die Rhetorik als eine Kunst, die es erlaubte, einen Standpunkt unabhängig von seiner sachlichen Richtigkeit überzeugend zu vertreten. Sokrates hingegen sah sich der Wahrheitssuche verpflichtet und verallgemeinerte diese in einer Weise, dass er heute gewissermaßen als Hebamme, als Geburtshelfer der Philosophie gilt.
Vor Sokrates kümmerte sich der griechische Wissensdurst vor allem um naturwissenschaftliche und mathematische Themen: So berechnet man noch heute mit dem Satz des Pythagoras die lange Seite eines rechtwinkligen Dreiecks und Thales hat bereits im Jahr 585 vor Christus eine Sonnenfinsternis korrekt vorhergesagt. Sokrates erweitert diesen Themenkreis. Er behandelt Dinge, die über die Naturwissenschaft hinausgehen und die Menschen damals wie heute betreffen. Er denkt über Gerechtigkeit, Liebe, Tod, Erziehung und vieles mehr nach. Vor allem aber erhob Sokrates die Frage und den Zweifel über die Antwort und das Wissen. Anders als Religion beruht Philosophieren damit seit Sokrates nicht auf der Verbreitung vermeintlicher Wahrheiten, sondern stellt genau diese in Frage.
Sokrates war sogar so konsequent darin, keine Wahrheiten verbreiten zu wollen, dass er selbst auf Niederschriften verzichtete. In einem Gespräch wechseln sich für gewöhnlich Fragen und Antworten ab, in Schriften dominiert hingegen der Monolog, hier können Behauptungen unwidersprochen aneinandergereiht werden. Wohl deshalb hat Sokrates den lebendigen mündlichen Austausch bevorzugt. Alles was wir über ihn wissen, stammt folglich aus den Schriften seiner Zeitgenossen, die glücklicherweise nicht Sokrates‘ Beispiel folgten. Platon wandte dabei einen simplen Trick an, damit seine Text nicht zu Monologen ausarteten: Er schrieb Dialoge nieder. In diesen versuchte er viele Unterhaltungen von Sokrates festzuhalten.
Wie aber ging die Gerichtsverhandlung eigentlich aus? Sokrates wurde schuldig gesprochen und ließ eine Chance zur Flucht verstreichen, weil er auch im Angesicht des Todes nicht die Gesetze übertreten wollte. Schließlich wurde ihm der giftige Schierlingsbecher gereicht, der sein Ende bedeutete, seine Philosophie aber blieb.
Aristophanes (1963): Die Wolken; Reclam.
Bleicken, Jochen (1995): Die athenische Demokratie; Schöningh.
Platon (1994): Apologie des Sokrates; in: Platon: Sämtliche Werke. Band 1; Rowohlt.
Ein schöner, klarer Text über den platonischen Sokrates. Wenn der Autor dafür gelobt werden will, kann er dafür ganz verdient gelobt werden.
Die Ausgangsfrage, „Woher wusste Sokrates, dass er nichts weiß?“ wird allerdings nicht wirklich beantwortet. Ich denke, die Frage kann auch nicht beantwortet werden, da sie falsch gestellt ist, weil der platonische Sokrates gar nicht wusste, dass er nichts weiß. Unabhängig von dem logischen Widerspruch wäre dieses auch ganz offensichtlich falsch. Denn Sokrates wusste sehr viel, z.B. auch dass Unrecht leiden besser ist, als Unrecht tun. Die platonischen Dialoge sind voller Wissen des Sokrates.
Nein, das Wissen des Nichtwissens des Sokrates bezieht sich darauf, was man nicht wissen kann. Die Ausgangsfrage hätte also formuliert werden können: „Woher wusste Sokrates, was er nicht wusste.“ Denn das ist in der Tat ein Wissen des Sokrates. Und dieses Wissen, von dem was man nicht wissen kann, ist das eigentlich emanzipatorische und aufgeklärte Wissen. Sokrates nennt es auch die menschliche Weisheit in Abgrenzung zur göttlichen Weisheit, die eben dem Gott vorbehalten ist.
Denn wer dieses Wissen hat, wer menschlich weise ist, ist immun gegen die Übergriffigkeit und Anmaßung der Manipulateure, der Rhetoriker, der Psychologen etc., die mit einem vermeintlichen Wissen agieren, dass Menschen gar nicht zusteht.
http://thomasweber.blog.de/2011/08/29/aussage-weiss-weiss-bagatellisiert-sokrates-11746362/
Hallo Herr Weber,
Keinesfalls sollte Sokrates als unwissend dargestellt werden. Vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, weshalb dieser offensichtlich ironisch gebrauchte Ausspruch in der Apologie in den Vordergrund gerückt wird. Platon, der diese Worte überliefert hat, wollte damit sicherlich nicht seinen Lehrer Sokrates bloßstellen. Die Worte wollen provozieren, sie wollen die von sich selbst überzeugten Wissenden ihrer eigenen Borniertheit überführen, denn diese wissen eben nicht, was sie alles nicht wissen.
So schwer auch zu trennen ist, wo der historische Sokrates aufhört und die „Dialog-Figur Sokrates“ als Sprachrohr Platons beginnt, so wird doch aus allen – einschließlich nicht-platonischen – Quellen deutlich, dass Sokrates äußerst bescheiden war. Er hätte für sich kein überlegenes, unumstößliches Wissen reklamiert, aber er hätte die Überlegenheit des Fragens und des Zweifelns gegenüber allem vermeintlich sicheren Wissen propagiert. Genau darauf wollte der Text hinweisen: Den Kern der sokratischen Philosophie bildet, sofern man sie nicht mit der platonischen insgesamt gleichsetzen will, das Fragen und weniger das Antworten.
Dennoch haben Sie freilich nicht Unrecht, wenn Ihnen das von Sokrates hier gezeichnete Bild nicht umfangreich genug erscheint. Ein solch kurzer Text kann Sokrates nicht erschöpfend gerecht werden, aber er kann vielleicht diejenigen neugierig machen, die mit Sokrates weniger vertraut sind.
Viele Grüße
Ihr WozuFragender
In der Apologie steht nicht absolut, dass Sokrates nichts weiß. Platon läßt Sokrates in der Apologie sagen, dass er von etwas nichts weiß. Das ist etwas grundlegend anderes. Insofern glaube ich auch nicht, dass das ironisch ist. Sokrates weiß von bestimmten Dingen, von denen seine Gesprächspartner ein Wissen zu haben vorgeben, wirklich nichts.
Es geht dem platonischen Sokrates nicht darum zu wissen, was man nicht weiß, sondern was man nicht wissen kann. Und zwar deshalb, weil es etwas gibt, was von Menschen grundsätzlich nicht gewußt werden kann. Die Manipulateure behaupten ein Wissen zu haben, was Menschen nicht zukommt. Diese Manipulateure stellt Sokrates bloß und beraubt sie dadurch ihres Anspruches, besser zu sein als andere und andere beherrschen zu wollen.
Das hat auch gar nichts mit Bescheidenheit zu tun. Im Gegenteil: Sokrates ist so unbescheiden, seinem eigenen logos zu vertrauen, nicht anderen vermeintlichen Experten oder Autoritäten nachzuplappern.
Ich glaube auch nicht, dass der Sokrates in der Apologie ein Sprachrohr Platons ist. Sokrates ist vielmehr eine durch und durch literarische Figur, geprägt durch die literarischen und philosophischen Absichten Platons.
Andere Autoren hatten andere literarische oder philosophische Absichten, die sie mit der Sokratesfigur ausgedrückt haben.
Deshalb ist für mich der Sokrates Platons nicht historischer als der des Aristophanes oder des Xenophon oder derer, deren Werke nicht mehr erhalten sind.
Der historische Sokrates ist dahinter praktisch nicht mehr erkennbar.
Ich weiß nicht, ob der historische Sokrates noch „erkennbar“ ist oder nicht. Ich weiß auch nicht, ob Sokrates eine „durch und durch literarische Figur“ ist oder nicht. Ebenso wenig weiß ich, ob Sokrates „unbescheiden“ ist oder worum es dem platonischen Sokrates geht. Ich weiß noch nicht einmal, ob Sokrates „wirklich nichts“ von den Dingen wusste, über die er mit seinen Gesprächspartnern sprach.
Wenn man die Dialoge liest, bekommt man jedenfalls den Eindruck, dass er durchaus über umfangreiches Wissen und Bildung verfügte. Man kann sich deshalb fragen, weshalb er es dennoch bevorzugt hat, alles zu hinterfragen. Man kann sich fragen, ob all die platonischen Dialoge eventuell verschiedenste Dinge vermitteln, oder es tatsächlich, wie Sie schreiben, allein immer darum geht, „was man nicht wissen kann“. Man kann sich fragen, ob die Beschreibungen zu Sokrates‘ sparsamen und zurückhaltenden Lebensstil zwar eine Bescheidenheit in äußeren Dingen nahelegen, seine Mäeutik allerdings eine unbescheidene Chuzpe im kommunikativen Bereich anzeigt, die allerdings ohne den Gestus der unumstößlichen Offenbarung auskommt. Man kann sich auch fragen, ob Historisches überhaupt erkennbar ist oder nicht vielmehr mit Literarischem zusammenfällt, zumindest sofern die Historie schriftlich übermittelt ist.
Das alles sind schwierige Fragen, die ich nicht beantworten kann, die ich auch nicht beantworten wollte. In jedem Fall gibt eine Beschäftigung mit Sokrates aber Denkanstöße: Etwa dahingehend, dass man etwas über die Grenzen dessen erfährt, was man wissen kann, wie Sie betonen. Oder dahingehend, ob man angesichts eines Todesurteils noch an die Gesetze gebunden ist. Oder auch dahingehend, weshalb Sokrates sich der Mäeutik als Methode bediente. Letzteres war nun jene Frage, die der kleine Text oben berührt. Keine vollständige Sokrates-Interpretation war das Ziel, sondern lediglich ein kleiner Aspekt wurde herausgegriffen. Unglücklicherweise ist die für Sie wichtige Thematik dabei unberücksichtigt geblieben.
Ausführliches zur sokratischen Ironie finden Sie übrigens unter anderem bei Hegel (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Suhrkamp 1971, S. 456ff). Das im Text angegebene Zitat „Denn von mir selbst wußte ich, daß ich gar nichts weiß, um es geradeheraus zu sagen“ enstammt einer Übersetzung von Friedrich Schleiermacher (Platon, Apologie 22d).
Zu Beginn des Dialoges Phaidon lässt Platon den Phaidon sagen: „Denn des Sokrates sich zu erinnern sowohl selbst redend oder einen anderen hörend, ist mir immer das Lustvollste von allem.“
Mir macht es auch Freude über Sokrates zu reden – das gehört offenbar zur Wirkung des Phänomens Sokrates – und deshalb gefällt mir auch die Diskussion mit Ihnen. Meine Anmerkungen wollen nicht kritisieren. Wenn aber einmal etwas Schönes über Sokrates im Netzt geblogt wird, verdient das doch, dass man sich anregen lässt und dieses dann auch zum Ausdruck bringt.
Ihr Nichtwissen über Sokrates und Platon im ersten Absatz ihrer Antwort, halte ich für den richtigen Ansatz, sich dem Phänomen Sokrates zu nähern.
Ich meine freilich nicht, dass es dem platonischen Sokrates immer darum geht, „was man nicht wissen kann“. In den Dialogen, die als frühe Dialoge Platons gelten, wird man das eher sagen können. Aber in den Dialogen, in denen dann die Ideenlehre ausgebreitet wird, geht es sicher nicht mehr darum, „was man nicht wissen kann“, sondern um die platonische Erwiderung auf den Gedanken des „Nicht-Wissen-Könnens“. Die Schau der Ideen der philosophischen Seele hat den Zustand des Nicht-Wissen-Könnens überwunden. Und die Ideenlehre scheint mir dann doch eher Platon als Urheber zu haben als Sokrates.
Auch die Mäeutik scheint mir platonischen Ursprungs zu sein. Sie taucht erst in dem Dialog Theaitet auf, der wohl frühestens im Jahr 370 v. Chr, also 30 Jahre nach dem Tod des Sokrates entstanden ist. In diesem Dialog wird auch die Mutter des Sokrates Phainarete zum ersten Mal genannt. Ich halte die Maieutik für eine platonische Erfindung, vielleicht sogar inspiriert durch eine Bemerkung des Schülers im Phrontisterion des Aristophanes über eine gedankliche Fehlgeburt, verursacht durch die Störung des Strepsiades.
Die Antwort auf Ihre Frage:
„Wenn man die Dialoge liest, bekommt man jedenfalls den Eindruck, dass er durchaus über umfangreiches Wissen und Bildung verfügte. Man kann sich deshalb fragen, weshalb er es dennoch bevorzugt hat, alles zu hinterfragen.“
könnte darin liegen, dass für Intellektuelle in Athen Athen in seinem Machtanspruch und seinem Agieren etwas aus den Fugen gerät. Die Tragödie Ödipus des Sophokles thematisiert die Verblendung Athens und bringt diese Verblendung mit der Pest und Niedergang in Verbindung.
Die Aufforderung Apolls „Erkenne Dich selbst“ ist durch die Ödipustragödie im politischen Kontext in Athen angekommen. Platon erzählt das Chairephon-Orakel über Sokrates, das nichts anderes als das „Erkenne Dich selbst“ zur Grundlage hat. Und Apollo ist der Gott des Maßes. Die Unmäßigkeit Athens, die an ganz vielen Stellen erkennbar ist, kann durchaus dazu geführt haben, das scheinbar Geltende zu hinterfragen. Vielleicht beginnt da dann auch die sokratische Aufklärung.
An unserer Diskussion kann man schön sehen, wie weit die Inspiration durch Sokrates reicht. Zwei sehr unterschiedliche Herangehensweisen treffen sich hier. Sie beschäftigen sich mit historischen Zurechnungen zu Personen und inhaltlichen Aussagen. Der Text oben orientiert sich hingegen stärker an methodischen Fragen. Das Interesse besteht hier am historisch wie auch immer gearteten Phänomen Sokrates, der den alten religiösen – man kann vielleicht auch sagen vorsokratischen – Gestus der Offenbarung, der unumstößlichen Wahrheitsbehauptung, ersetzt durch mäeutisches Fragen und Zweifeln. Die statische Philosophie geht in dynamisches Philosophieren über. Auch wenn manches, was Platon seinen Lehrer Sokrates sagen lässt, heute also überholt gelten kann, so bleibt mit diesem Namen doch verbunden, das Selbstverständliche methodisch zu hinterfragen, was zugleich bis heute zu den zentralen Aufgaben der Philosophie gehört.